Riga - Ghetto und KZ

 

Unten: Ein Zug mit deportierten Juden bei Ankunft in Riga...

oben: Der Eingang zum Ghetto Riga


 aus: Lorenz Beckhardt, Der Jude mit dem Hakenkreuz (Manuskript, Buchausgabe: Berlin 2014, leicht verändert S.434/435). Lorenz Beckhardt ist ein Urenkel von Rudolf und Paula Boldes.

 

"...Am 27. Januar fuhren Paula und Rudolf (Boldes) mit ihren Leidensgenossen von Dortmund über  Berlin, Danzig und Königsberg nach Riga. Während der sechstägigen Fahrt gab es weder Essen noch Trinken, so dass die Insassen ihre eigenen Ausdünstungen, die innen an den Fensterscheiben festfroren, ablecken mussten.

 

Am 2. Februar hielt der Zug in Skirotava, einem Vorort von Riga. Die SS prügelte die Menschen bei minus 38 Grad Celsius aus dem Zug. Es hieß, wer die fünf Kilometer ins Zentrum von Riga nicht laufen könne, solle auf bereitgestellte LKW steigen. Die LKW fuhren allerdings nicht in die Stadt, sondern in den Hochwald von Bikernieki vor die Erschießungskommandos der SS, während die ahnungslosen Verwandten noch Tage im Ghetto auf ihre Angehörigen warteten.

 

Die Häuser im Ghetto waren überfüllt. Rudolf und Paula wurden mit 700 Menschen in ein mehrstöckiges Gebäude gezwängt, in dem in jedem Raum 20 Menschen lebten, die beim Schlafen übereinander lagen. Paula wurde zur Arbeit in das „HVM“, das Heeresverpflegungsmagazin abkommandiert, wo sie die Habseligkeiten der Ermordeten sortierte. Die Männer bereiteten alte Batterien wieder auf, in dem sie mit bloßen Händen die Bleiplatten aus der Säure nahmen, sie leerten Schrott aus Wehrmachtswaggons oder säuberten das Flugfeld auf dem nahen Luftwaffenstützpunkt.

 

Rudolf war durch die Mangelernährung bald zu schwach zum Arbeiten, so dass die „Aktion Dünamünde“, die die SS im Februar 1942 startete, gerade recht zu kommen schien. Die älteren Ghettobewohner sollten umziehen und in einer Fischkonservenfabrik nahe der Mündung der Düna in die Ostsee eine „sitzende Beschäftigung bei guter Verpflegung“ erhalten. Am Morgen des Umzugs wies man sogar jüdische Sanitäter an, den Transport zu begleiten, um die Alten zu beruhigen. Auch Rudolf und Paula bestiegen einen Lastkraftwagen. Die Fahrt nach „Dünamünde“ würde etwa 30 Minuten dauern, doch schon nach 20 Minuten waren die leeren LKW wieder da, um die nächsten aufzuladen. An den folgenden Tagen kamen die blutverkrusteten Kleider der Alten mit Einschusslöchern zur Reinigung zurück. Die Ghettoinsassen, die sie sortierten, erkannten die Kleidung der Angehörigen. Eine Konservenfabrik hat es in Dünamünde nie gegeben..."

 

Plan des Rigaer Ghettos mit den verschiedenen Zonen nach dem 8. Dezember 1941. (Erstellt von Peter Palm, Berlin.) Die Juden aus Gelsenkirchen und Umgebung, die so genannte "Dortmunder Gruppe" war in der Ludzas iela 36 (Nähe Prager Tor) untergebracht.

(gefunden in: www.gelsenzentrum.de/deportation_gelsenkirchen_riga_januar_1942.htm,

 siehe auch unten: "Am 27.1.1942...")

Am 27. Januar 1942 rollte der erste "Sammeltransport" mit Kindern, Frauen und Männern jüdischer Herkunft von Gelsenkirchen Richtung Osten. Bestimmungsort der Menschenfracht war das Ghetto Riga. 359 Gelsenkirchener Juden wurden in die zum "Sammellager" umfunktionierten Ausstellungshalle am Wildenbruchplatz unter unmenschlichen Bedingungen eingepfercht.

 

Auch Juden aus umliegenden Revierstädten wurden nach Gelsenkirchen transportiert...Auf dem Weg nach Riga wurden weitere Menschen an verschiedenen Haltepunkten - u.a. in Dortmund und Hannover - in den Zug gezwungen. Der Deportationszug der Deutschen Reichsbahn erreichte schließlich mit etwa 1000 Menschen am 1. Februar 1942 Riga in Lettland.

 

Der überwiegende Teil der aus Gelsenkirchen und anderen Städten am 27. Januar verschleppten Juden wurden im Ghetto Riga oder in Konzentrationslagern ermordet. Zu den wenigen, die oftmals als Einzige ihrer Familien den Holocaust überlebt haben, gehören Rolf Abrahamsohn, Bernd Haase, Herman Neudorf und Elli Kamm, geborene Diament. 

Rolf Abrahamsohn aus Marl erinnert sich:

 

"Am Morgen des 24. Januar um sieben Uhr wurden wir in Recklinghausen lebenden Juden aus den Häusern geholt. Wir standen bis nachmittags um vier auf der Straße, bevor man uns mit Lastwagen nach Gelsenkirchen zur Ausstellungshalle am Wildenbruchplatz brachte. Am 27. Januar verließ der Deportationszug mit einigen hundert Juden aus Gelsenkirchen, Recklinghausen und weiteren umliegenden Orten die Stadt. Man hatte uns gesagt, dass wir in ein Arbeitslager kämen, damals habe ich das noch geglaubt. Im Zug war es tagsüber sehr heiß und nachts eiskalt - das war unser Glück. So konnten wir wenigstens das gefrorene Wasser von den Fenstern ablecken, damit wir nicht ganz verdursten.

 

Als wir am 1. Februar in Riga am Bahnhof Skirotava ankamen, wurden wir mit Gebrüll und Schlägen von der SS empfangen. Wir sollten einige Kilometer bis ins Ghetto Riga laufen, den Schwachen bot die SS scheinheilig eine Fahrt auf LKW dorthin an. Was die Menschen, die auf die LKW stiegen, nicht wussten: das war praktisch schon eine erste Selektion. Sie brauchten uns ja als Arbeiter. Wer nicht laufen konnte, konnte nach der Logik der SS auch nicht arbeiten und so fuhren die LKW mit ihrer Menschenfracht direkt zu den Erschießungsstätten im Wald von Bikernieki."