Pogrom  9.11.1938 in Marl


Amtshaus Marl: Dieser Betrieb steht geschlossen in der DAF

(Deutsche Arbeitsfront: NS-Organisation für die Betriebe und Belegschaft gemeinsam anstelle der Gewerkschaften)


Pogrom November 1938, "(NS-) Nationalzeitung 11.11.38

Die Geschäfte gehörten: Abrahamsohn, Korn und Boldes.

 

Rolf Abrahamsohn:

Bericht am 9. November 1978, (W.Schneider, Jüdische Heimat im Vest, S.198 f.,

Sendung »Ü-Wagen«, WDR 2, Carmen Thomas)

 

»Geboren wurde ich 1925 in Marl-Hüls. Ich habe die evangelische Schule in Marl-Brassert

besucht, und zwar sieben Jahre, bis zu der ›Pogromnacht‹ am 9. November 1938. In dieser

Nacht habe ich zum ersten Male hundertprozentig feststellen

können, dass ich Jude bin. Ich erinnere mich noch genau daran, als wenn es gestern gewesen wäre.

Ich habe die Pogromnacht als 13jähriger Junge mitgemacht, und das Erlebnis

dieses Tages kann ich in meinem ganzen Leben nicht vergessen. Da begann ein neuer Abschnitt in meinem Leben und dieser Abschnitt reicht bis zum heutigen Tage. Man ist ein anderer Mensch geworden.

Ich habe die Pogromnacht morgens um halb sechs wahrgenommen, als ich durch das Schreien meiner Eltern wach wurde. Die Flammen sind bis zur ersten Etage, wo unser Kinderzimmer lag, herauf geschlagen. Ich hatte noch zwei Brüder, die damals vier und sechzehn Jahre alt waren, ich selber war dreizehn.

 

Wir haben versucht, auf den Hof zu kommen, wo die Flammen zuerst ausgebrochen waren. Man hatte dort die Holzrollläden mit Benzin übergossen und dann angesteckt. Die christlichen Freunde und die Hausbewohner haben nichtsahnend geholfen, die Flammen zu ersticken. Mein Vater ist dann in den raucherfüllten Laden ein- gedrungen, um vorne der Polizei die Türen zu öffnen.

Dann ist die SA – die Namen sind selbstverständlich bekannt, die haben auch dafür

ein Jahr Gefängnis bekommen (Klee und Döweling, dazu noch OL Becker, siehe auch Entnazifizierungsakte, unten. KM) – in das Geschäft meiner Eltern eingedrungen, haben meinen Vater niedergeschlagen und das Geschäft noch einmal angesteckt. Wir hatten ein Textil- und Schuhwarengeschäft. 

Mein Vater lag blutüberströmt in dem Laden. Die SA zog sich dann zurück, weil die Hitze immer stärker wurde. Meiner Mutter und uns gelang es dann, den blutüberströmten Vater aus dem Laden zu ziehen, zu retten.

 

Ein früherer Hausarzt, Dr. Mannz, hat meinen Vater dann anderthalb, zwei Stunden

verbunden. Danach wurde unsere ganze Familie abgeholt und ins Gefängnis Marl-Brassert

(Bonifatiusstraße 22) eingeliefert, in sogenannte ›Schutzhaft‹. Meine Mutter, meine  Geschwister und ich wurden abends um sechs Uhr entlassen.

Mein Vater aber wurde ins Polizeipräsidium Recklinghausen transportiert und erst nach acht Tagen wegen Haftunfähigkeit freigelassen.

 

Nach 14 Tagen mussten wir Marl verlassen, wodurch die Stadt Marl ›judenrein‹ wurde …«

 

"Ein enges Band zwischen der Amtsverwaltung Marl (Friedrich Willeke, Bürgermeister und Parteigenosse) und der NSDAP (Ortsgruppenleiter Paul Becker) wird 1939 geknüpft...".

Das Haus Loestraße 26 gehörte Arthur Abrahamsohn, Mutter und Sohn Rolf waren nach RE ausgewiesen worden, der Vater und Sohn Hans befanden sich auf der Flucht (Belgien und Frankreich). Bis auf Sohn Rolf sind alle ermordet worden, Sohn Norbert durch unterlassene Hilfeleistung der Ärzte...


 

(aus einer Entnazifizierungsakte: NW 1039-L 2278)

 

Zeugenaussage des Brandmeisters St., er hat der Aktion beige-

wohnt; Aussage am 25.3.1949):

»Ich wurde durch den Brand bei Korn geweckt (3.30–4.00), bei

Abrahamsohn brennt es (auch). Ich bin hingegangen. Dort waren SA-Uniformen und

viele Leute, die herumstanden und nicht halfen...Ich bin in den Laden gegangen, die Stoffe in den Regalen brannten. In SA- oder Parteiuniformen habe ich Spangemacher (Rektor, NSLB Vorsitz), (NS-)Ortsgruppenleiter Becker (Paul, später Bürgermeister von Marl), L. und B. (Lehrer) gesehen. Arthur Abrahamsohn kam durch den Hinterausgang in den Laden und wurde von dem Sturmführer Döweling (Wilhelm, SA-Sturmführer und städtischer Elektromonteur) und Klee (Gustav, Sturmführer SA und Lichtgelderheber) mit einem Sessel niedergeschlagen.

Ich verließ das Lokal.

Nachdem noch eine Alarmierung erfolgt war, bin ich mit einem Teil meiner Leute (Feuerwehr) noch einmal zurückgekommen. Als wir löschen wollten, wurden wir von (Polizei-)Revierführer Kudicke mit den Worten: »Hier wird nicht gelöscht« daran gehindert.

Wir haben trotzdem gelöscht.

Auch in der Privatwohnung Abrahamsohn sah es schlimm aus. Nach Löschung des Brandes wollte Kudicke, dass wir den Laden zunageln mit Brettern; er hat das dann mit einem Teil von Feuerwehrleuten gemacht, mit mir nicht.

 

(hier aus: Klaus Mohr, " Sowas passiert in Deutschland nicht...", S.69/70)

 

Frau Hoffmann und ihre Mädchenklasse 1937/38 der (heutigen) Bonifatiusschule. In der mittleren Reihe die 6. von links ist Pia Irma Korn, in der unteren Reihe die 4. von links ist Luise F. Von ihr stammt dieses Foto.

Der Vater von Pia Korn war Uhrmacher und hatte sein Geschäft im Haus fast gegenüber der Schule. Am 15./16.11. 38 gelang es der Familie Korn nach Belgien zu fliehen. 

1942 wurden Pia, ihr Bruder Heinz und ihre Eltern Rosa und Peijsach nach Auschwitz deportiert. Alle bei Ankunft ermordet.

Die damals 6 oder 7jährige Luise F war Augenzeugin der Vertreibung der Familie Korn aus ihrem Haus unter Einsatz von Reitpeitschen...


Arisierung: Abwicklung jüdischer Geschäfte: (Dorsten Waltrop, Westerholt. Und in Marl:

Arthur Abrahamsohn und Rosa Korn.

(Stadtarchiv Recklinghausen, die Schwärzungen der Namen sind nicht von mir.KM)


Die zerstörte Synagoge in Recklinghausen, Pogrom November 1938. Heute steht hier das Finanzamt. In Sichtweite: Die Feuerwehr (Löschverbot) und das Polizeipräsidium. Hier mussten jüdische Männer dem Brand zusehen, Lieder singen und "gymnastische Übungen" machen. Daneben stand der damalige Polizeipräsident Vogel mit Reitpeitsche...

(aus: M. Kordes, G. Möllers, J. Pohl, (Hg.), 1000 Jahre Stadtgeschichte(n) Recklinghausen,

RE 2017, S86/87)