Die Erinnerungen von Berthold Boldes  (1923 bis 1945)

 (Berthold Boldes starb 2011)

Marl-Hüls 1994 (Gespräch mit Lorenz Beckhardt, veröffentlicht in:  Klaus Mohr, "Sowas passiert in Deutschland nicht". Jüdische Menschen in Marl, Essen 2012.

Das Buch ist nicht mehr im Handel.)


Eine kurze Jugend

Ich wurde am 21.11.1923 in Marl in Westfalen geboren. Als die Nazis an die Macht kamen, war ich neun Jahre alt In diesen ersten neun Jahren habe ich nur Gutes erlebt. Ich hatte liebe Eltern. Wir lebten in angenehmen Verhältnissen. Es fehlte uns an nichts. Ich habe wirklich nur schöne Erinnerungen an diese Zeit. Zuerst war ich im Kindergarten und mit sechs kam ich in die Volksschule.

Vor 1933 hatte ich keinerlei Ahnung von der Existenz von Antisemitismus. Ich kannte noch nicht einmal den Begriff. Auch Nazis habe ich keine zu Gesicht bekommen. Wahrscheinlich war ich auch viel zu jung, um solche Dinge mitzukriegen. Ich habe ein sehr beschütztes Leben geführt. Meine Eltern haben mich behutsam von allem fern gehalten. Auch zuhause erinnere ich mich an keine derartigen Gespräche.

Überhaupt wurde bei uns nicht über Politik geredet. Weder meine Eltern noch meine Geschwister waren politisch. Meine Eltern hatten zwei Häuser in Marl auf der Hülsstraße. Ich meine, es waren die Hausnummern 12 und 12a.

In den beiden Häusern hatten wir ein Möbel- und Ausstattungsgeschäft mit vielen anderen Dingen des alltäglichen Haushaltsbedarfs. Wir verkauften Fahrräder, Handwagen, auch Teppiche, Linoleumteppiche.

Meine älteste Schwester Edith (später Hillbrenner, KM) hat bereits im Geschäft mitgearbeitet, und ich habe so ein bisschen »mitgeschoben«. Am meisten hat mich die Arbeit meines Vaters interessiert. Der war Möbelschreiner, ein tüchtiger Schreiner, und ich durfte ihm bei der Arbeit helfen. Überhaupt war er ein lieber Vater, aber auch ein strenger Lehrer. Er hat mir vieles beigebracht, manchmal auch mit einer Ohrfeige.

Deutschland vor 1933, das war und hätte auch bleiben können, ein ganz normales Land, in dem man wie überall ganz normal leben konnte. Wie gesagt, ich hatte von der ganzen Entwicklung damals überhaupt nichts mitbekommen.


Eine Veränderung

1933 hat sich dann was verändert. Die SA ging in Uniform über die Hülsstraße, wo sie sich immer in einer Gaststätte traf. Von dort hörte ich dann ihre Nazilieder. Was mich am meisten geängstigt hat, sehr geängstigt hat, das waren ihre Märsche durch die Hülsstraße, wenn meine Eltern, meine Geschwister und ich hinter den Gardinen standen und unten sangen sie »wenn das Judenblut vom Messer spritzt, dann geht’s nochmal so gut«.

 

Da war ich etwa zehn Jahre alt und wusste schon genau, wer da gemeint war.

Denn, dass wir Juden waren, das war mir schon seit meinem dritten, vierten Lebensjahr bewusst. Wir waren nicht gerade fromme Juden, aber die Feiertage hielten wir ein. Und auch den jüdischen Freitagabend vor dem Sabbat, den haben wir begangen. Darin war meine Mutter perfekt.

In der Schule haben die Kameraden ganz langsam ihr Verhalten mir gegenüber verändert. Ich wurde nicht mehr Bubi oder Berthold genannt, sondern »Du Jude«, »Jude, komm mal her« und »Jude, tu dieses oder jenes«.

Doch das Allerschlimmste war für mich in diesem jungen Alter die Turnstunde. Da wurde ich richtig ausgestoßen. In Hüls gab es ja damals noch das Freibad Loemühle. Einmal wöchentlich sind wir dort zum Schwimmen gegangen, aber ich durfte nicht mehr mit. Es hieß:

 

»Der Saujude verpestet das Wasser.« Das waren ganz, ganz tiefe Schläge für mich. Ich habe sehr gerne geschwommen. Und dann hatten wir Jungen natürlich auch eine Fußballmannschaft, bei der ich plötzlich auch nicht mehr mitspielen durfte. Das waren so die ersten tiefen Schläge. Die haben weh getan, sehr weh getan.

Dabei hatte ich eigentlich viele Freunde als Junge. Ich war unter meinen Freunden beliebt, das kann ich behaupten. Doch mit der Zeit haben sie sich mehr und mehr von mir abgesondert. Nur zwei, drei Kameraden haben noch zu mir gehalten. Wenn man mich auf dem Schulhof schlagen wollte, dann haben die mich noch verteidigt. Das ging so ein, zwei Jahre. Dann haben die sich das auch nicht mehr getraut.

Direkten Kontakt mit den Nazis hatte ich allerdings weniger in der Schule.


Das Geschäft wird ruiniert

Unser Möbelgeschäft war ja ein Teilzahlungsgeschäft, und die Kunden zeigten jetzt ihr wahres Gesicht, indem sie einfach nicht mehr zahlten. Und weil die SA drei- bis viermal die Woche vor der Ladentür stand und keinen Kunden ’rein ließ, hatten wir kaum Geld in der Kasse. Also haben meine Eltern mich mit dem Fahrrad zu den Kunden ’raus geschickt zum Kassieren.

Das war 1937/38. Ich war 14 Jahre alt damals.

Von den Kunden wurde ich oft ausgelacht: »Was willst Du noch? Wir brauchen nicht mehr zahlen.«

Andere haben uns lächerlich gemacht und mir auf ihre hohen Schulden 50 Pfennig in die Hand gedrückt. 50 Pfennig Teilzahlung. Natürlich habe ich angenommen, denn mehrmals 50 Pfennig, davon mussten wir schließlich leben.

Eine Sache vergesse ich nie. Mein Fahrrad war mein ganzer Stolz und mein einziges Vergnügen. Das war immer blank geputzt und gewienert. Es war mein Hobby. Und einige Male kam ich bei einem Kunden raus nach dem Kassieren, und man hatte mir die Reifen zerstochen. Da sind mir manches Mal die Tränen über die Backen gelaufen, weil ich mein Fahrrad nach Hause tragen musste.

Meine Eltern haben zu der Zeit natürlich schon große finanzielle Kopfschmerzen gehabt. Sie konnten ihren Schulden nicht mehr nachkommen. Die gekauften Hobel konnten sie nicht mehr bezahlen. Und es ging bergab, radikal bergab. Ich erinnere mich, dass die Kreditoren meinen Eltern bildlich gesprochen den Revolver auf die Brust setzten: »Jetzt wollen und müssen wir unser Geld haben.«

Da hat mein Vater eine Hypothek auf die Häuser aufgenommen, um seine Schulden zu begleichen. Doch schon im nächsten Schritt konnte er die Hypothek nicht mehr zurück zahlen, mit dem Resultat, dass die Häuser vor unserer Nase zwangsversteigert wurden.

Wir mussten also auch mit dem Geschäft aus den Häusern raus und sind in eine Wohnung nach Recklinghausen gezogen.

Natürlich hatten wir nicht alle restlichen Möbel so schnell verkaufen können. Deshalb mieteten wir in Hüls in der Otto-Hue-Straße ein kleines Lokal, wo wir den Rest verkaufen wollten. Manchmal ging ein Stuhl weg, dann mal ein Bett. Aber immer auf Teilzahlung, so dass wir nie sicher waren, ob wir überhaupt jemals das Geld bekommen würden.

Mein Bruder Günther und ich, wir fuhren jeden Morgen auf dem Moped von Recklinghausen nach Hüls.

Er hat mich dann ins Geschäft gestellt – da war ich 15 – und ist selbst kassieren gefahren. Wenn dann ein Kunde kam und sich für ein Möbel interessierte, musste ich die Adresse aufschreiben, weil ich zum Teilzahlungsverkauf noch zu jung war. Bar hätte ich verkaufen können, aber bar hat keiner gekauft. Nach Feierabend sind Günther und ich dann zu dem Kunden gefahren und wir haben versucht, das Geschäft abzuschließen.


»Kristallnacht«

Dann kam der fürchterliche 9. November: »Kristallnacht«. Wir fuhren von Recklinghausen nach Hüls ins Geschäft und alles war verbrannt. Das war der letzte Hammerschlag auf den Kopf. Aus. Schluss, ganz Schluss. Vor dem Haus stand niemand mehr. Es qualmte nur und das Feuer war noch nicht ganz aus. Kein Stück Möbel war mehr zu gebrauchen. Alles war angebrannt.

Da wusste ich zum ersten Mal als 15-jähriger Junge, hier endet das Leben. Hier will ich mal zeitlich etwas vorgreifen. Wir hatten ja viele Teilzahlungskunden, die die Hitlerzeit ausgenutzt haben. »Jetzt bezahlen wir den Juden nicht mehr.« Doch nach dem Krieg wussten dieselben Kunden, dass meine Schwester Edith noch in Hüls lebte.

Mich haben diese Leute, als ich 1949 das erste Mal wieder in Deutschland war, gleich auf der Straße begrüßt. Wegen meiner großen Ähnlichkeit zu meinem Vater haben mich alle gleich erkannt. Viele wollten mir die Hand drücken, aber keiner war dabei, der gesagt hat: »Pass auf, wir schulden euch noch Geld von damals. Das wollen wir jetzt bezahlen.«

Nicht einer! Nicht einer hat sich gemeldet. Aber alle, die mich angesprochen haben, haben gesagt: »Wir konnten ja nichts machen. Was sollten wir machen? Wir mussten doch mitmachen.« Alle haben sie ihre Hände in Unschuld gewaschen. Nicht einer war so menschlich und so ehrlich und hat gesagt:

»Wir schulden deinen Eltern noch Geld. Gib mir deine Adresse. Wir werden es bezahlen.« Und soweit ich weiß, hat meine Schwester Edith auch nie derartiges erlebt.

 

SA »wehrt sich« gegen eine jüdische Großmutter

In der Zeit, als wir noch das Möbelgeschäft in Hüls hatten, hatte ich noch ein weiteres Erlebnis, das ich niemals vergessen kann. Den ganzen Tag hatte die SA vor der Ladentür gestanden. Kein Kunde hatte unser Geschäft betreten. Mein Vater und ich, wir waren in der Möbelwerkstatt, die sich unter dem Geschäft im Keller befand. Plötzlich, es war schon Feierabend und die Ladentür war abgeschlossen, da schellt es am Nebeneingang. Mein Vater sagte mir, ich solle aufmachen.

Als ich die Tür öffnete, wurde ich gleich von zwei SA-Männern in Uniform weggeschubst: »Wo ist dein Vater?« »Der ist hier im Geschäft.« Da sind sie gleich rein marschiert. Mein Vater war auch gerade hochgekommen und fragte: »Was ist los?« Schon wurde er angerempelt. Die SA-Männer waren alte Kunden von uns, die uns noch Geld schuldeten. Jetzt wollten sie eine Bescheinigung, eine Quittung, dass sie alles bezahlt hätten. Da sagte mein Vater:

»Wie komme ich dazu? Ihr schuldet uns doch noch was.«

Da zog einer der SA-Männer einen Revolver und drohte: »Gib uns das Schreiben oder ich erschieße dich!«

Mein Vater antwortete: »Ihr Grünschnäbel, glaubt ihr, ihr könnt mir mit eurem Revolver Angst machen? Ich habe im Weltkrieg vier Jahre für mein Vaterland gekämpft. Ich habe schon vielen Kugeln entgegen gesehen. Ihr macht mir keine Angst. Erschießt mich doch! Davon habt ihr auch nichts.«

Da haben sie ihn geohrfeigt und gesagt: »Geld aus der Kasse! Sofort, alles, was du hast!«

Mein Vater: »Ihr habt doch den ganzen Tag vor dem Laden gestanden. Es war doch kein Kunde da. Also ist auch kein Geld in der Kasse.«

 

Also der Schrecken, da steht einer vor meinem Vater und will ihn erschießen, das war ein Erlebnis, das ich niemals vergesse, niemals. Ich sehe es noch heute vor mir Dann kam zufällig meine Großmutter auf Besuch. Und als sie sah, was los war, fragte sie meinen Vater:

»Rudolf, was ist hier los?« Als er es ihr kurz erklärt hatte, sagte die Oma:

»Ich weiß genau, dass mein Schwiegersohn kein Geld hat.«

Da bekam sie einen derartigen Schlag ins Gesicht, dass sie hinterrücks die Kellertreppe runter stürzte. Damals war sie schon über 70 Jahre alt.

Nun schickte mich mein Vater hoch in den 2. Stock. Dort wohnte ein Polizist bei uns zur Miete, den sollte ich holen. Ich erklärte dem Beamten, als der endlich öffnete, was los war, er möchte doch bitte runterkommen Doch der hat sich keinen Deut bewegt, der kam nicht.

Die SA-Männer sahen dann, dass so nichts zu erreichen war. Da sagten sie:

»Wir gehen jetzt nebenan in der Kneipe ein Bier trinken. In einer Stunde kommen wir wieder. Bis dahin hast du Geld! Wenn nicht, dann bist du dran, du Saujude!«

Sie sind gegangen. Aber zurück kamen sie nicht.

 

Das vergesse ich nie, nie solange ich lebe. Zur Rechenschaft ziehen konnten wir die Leute nie. Denn, wer die SA-Männer waren, wie sie hießen, das weiß ich nicht. Und meine Eltern, die es wussten, kamen im KZ um.


»Sowas passiert  in Deutschland nicht«

Meine älteste Schwester Edith war zu der Zeit schon verheiratet. Unser Verhältnis zur Familie meines Schwagers Willi war ganz normal und gut. Der Karl-Heinz, das war der Neffe meines Schwagers, der kam oft aus Berlin zu Besuch. Und immer, wenn er da war, durfte ich mit ihm spielen, nur wir zwei, sonst war keiner dabei. Wenn er also seine 14 Tage auf Ferienbesuch bei seinen Großeltern war, dann hatte ich mal einen Spielkameraden. Sonst hatte ich keinen. Ich habe mich wirklich ausgestoßen gefühlt. Ich war ganz einsam.

Natürlich habe ich auch mitbekommen, wenn meine Eltern über unsere Zukunft sprachen, wie es denn weitergehen soll. Mein Vater war sehr deutsch-national eingestellt. Er hat immer gesagt: »Ich habe für mein Vaterland gekämpft, ich habe das Eiserne Kreuz erhalten und wurde im Krieg verletzt!«

Er lebte mit einem Granatsplitter hinter einem Auge, den man damals nicht entfernen konnte. Er wiederholte immer wieder, dass das alles eine vorübergehende Erscheinung sei:

»Sowas passiert in Deutschland nicht.«

Er war naiv und optimistisch zugleich, was leider ihn und meine Mutter das Leben gekostet hat.

Mein Onkel (Siegfried Neugarten, KM), der Bruder meiner Mutter und der Vater von Grete, hat immer wieder gesagt: »Wir müssen weg, Rudolf. Das ist das Einzige. Wir müssen weg.« Doch mein Vater antwortete: »Ich bin Handwerker und werde immer mein Brot verdienen können.«

Mein Onkel, meine Tante und Grete, die sind nach Belgien geflohen. Aber mein Vater wollte nicht: »Ich bleibe!«

Allerdings war die Beziehung zwischen meinen Eltern und meiner ältesten Schwester Edith, meinem Schwager und deren Tochter Melitta sehr eng. Das war auch ein Grund, der meine Eltern vom Auswandern abhielt. 1938, nach der Kristallnacht, als sie dann merkten, wie ernst die Situation war, konnten sie nicht mehr weg. Da waren die Grenzen zu. Auch illegal gab es keinen Weg mehr.


Emigration

Als dann meine anderen drei Geschwister Deutschland verließen, war das für mich wie ein Abschied für immer. Ich dachte, die seh’ ich nie wieder. Die Entscheidung fiel am Tag nach der Kristallnacht. Da sind sie alle verhaftet worden und haben sich gesagt: »Wenn wir hier nochmal ’rauskommen, dann hauen wir ab.«

Meine Eltern und ich kannten den Zeitpunkt nicht. Das war alles Tabu, darüber sprachen wir nicht. Meine Geschwister saßen also im Gefängnis in Recklinghausen, direkt beim Polizeipräsidium. Und meine Mutter hatte nun mich, der ich wohl noch zu jung war, um verhaftet zu werden, zum Gefängnis geschickt, ich sollte Butterbrote, Kaffee und warme Sachen hinbringen. Natürlich konnte ich nicht durch den Haupteingang des Polizeipräsidiums gehen. Da war ja auch das Gefängnis nicht.

 

Wie ich also um das Gebäude herumlief, stand ich plötzlich vor einem vergitterten Kellerfenster, da saßen sie alle drin. Nicht nur meine Geschwister, alle Juden aus Recklinghausen saßen da. Die waren natürlich froh, dass ich was brachte. Ich schob die Sachen durch den Gitterstab und bemerkte nicht, dass man mich beobachtete.

Plötzlich kamen zwei Beamte gelaufen und packten mich: »Komm mal her, du Schweinehund.« Im Präsidium bekam ich dann eine Ohrfeige nach der anderen. Schließlich wurde ich für mehrere Stunden in eine Einzelzelle gesperrt und am Ende wieder nach Hause geschickt.

Die wollten mir Angst machen, und ich hatte wirklich große Angst. Als meine Geschwister dann endlich ’rauskamen, hatten sie die Auflage, sich alle 24 Stunden bei der Polizei zu melden.

Mein Schwager Bernd (Königsbuch, KM) der heute in Israel lebt, hatte damals mit den jüdischen Auswanderungsorganisationen zu tun. Die kümmerten sich um Leute, die nach Had Hascharon nach Israel (Palästina, KM) wollten.

Da Bernd sich in meine Schwester Ruth verliebt hatte, hat er dafür gesorgt, dass Ruth und mein Bruder Günther bei der Ausreise bevorzugt wurden. Die haben dann den Bernd gefragt: »Sag mal, kannst du nicht auch dem Bubi helfen. Der ist noch zuhause bei den Eltern.«

Und irgendwie hat der das hingekriegt, dass ich in eine Gartenbauschule nach Ahlen bei Hannover kam. Das war ein Lager, in dem wir für den Kibbuz in Israel vorbereitet wurden. Wir waren etwa 40 junge Leute, und nach etwa vier Monaten hieß es: »Es ist höchste Zeit, wir müssen hier weg.«

Man wusste bereits, dass der Krieg bald beginnt. Da wir aber nicht so schnell direkt nach Israel konnten, brauchten wir ein Transitland. Für mich war das zufällig Dänemark. Bei Nacht und Nebel wurden wir von Travemünde nach Dänemark verschifft. Drei Wochen später marschierten die Deutschen in Polen ein. Wer jetzt noch nicht aus Deutschland ’raus war von meinen Kameraden, der saß fest, jedenfalls die meisten. Auch das jüdische Auswanderungsbüro in Berlin wurde geschlossen. Da war plötzlich Schluss.

 

Ruth und Bernd hatten noch in Recklinghausen geheiratet und am nächsten Tag die Stadt verlassen. Ich war damals mit meinem Vater am Bahnhof und habe sie verabschiedet. Schon am folgenden Tag bin ich nach Ahlen gefahren. An diesem Tag sah ich meine Eltern zum letzten Mal.

Sie haben mir noch Briefe und Pakete geschickt. Gesehen haben wir uns nie mehr, denn mein Abtransport nach Dänemark verlief quasi über Nacht. Am Morgen wusste ich noch nicht, dass ich am Abend Deutschland verlassen würde. Von Berlin aus hatte Bernd dafür gesorgt, dass ich bei dem ersten Transport war.

Wir sind immer in kleinen Gruppen von drei bis vier Jungs weggefahren. In Dänemark habe ich mit meinen Eltern brieflich weiter Kontakt gehalten. Ihren Briefen war immer ein Antwortschein beigelegt. Dafür bekam ich hier in Dänemark eine Briefmarke. Ich war ja völlig mittellos. Solche Antwortscheine gibt es heute gar nicht mehr. Hin und wieder haben sie zwei oder drei Antwortscheine ’reingetan. Davon konnte ich mir dann eine Kinokarte kaufen. Ich war so arm, deshalb vergesse ich das nie.

 

Bis 1942 habe ich mit meinen Eltern korrespondiert. Und dann war Schluss, dann bekam ich keine Antwort mehr. In ihren Briefen stand aber nie: »Wir warten auf unsere Abschiebung.« Die Post wurde ja zensiert. Sie schrieben nur: »Ab einem unbekannten Zeitpunkt werden wir hier nicht mehr weiter wohnen können.« Da wusste ich Bescheid.

Die Juden in Dänemark wussten bereits, dass die deutschen Juden in Konzentrationslager gebracht wurden und dass sie dort arbeiten mussten. Wie das enden würde, das wusste niemand. Erst nach dem Krieg, im Juni 1945 habe ich erfahren, dass meine Eltern ermordet worden waren.


In Dänemark – in Sicherheit?

Ich war 15, als ich nach Dänemark kam und sprach kein Wort dänisch. Die Leute, die mich aufgenommen hatten, sprachen kein Wort Deutsch. Also haben wir uns mit einem Wörterbuch verständigt. Die Leute waren sehr lieb, aber nicht gerade reich. Der Mann war Arbeiter, sie hatten ein kleines Häuschen mit Garten, aber mit nur zwei Zimmern. Jede Nacht habe ich im Wohnzimmer auf einem Klappbett geschlafen. Ich sollte den Garten pflegen. Das war zwar nicht gerade meine Lieblingsarbeit, aber ich habe gemacht.

Außerdem habe ich den Haushalt gemacht, das hieß Geschirr spülen, den Fußboden wischen, Staub wischen und Holz für den Ofen hacken. Das habe ich eineinhalb Jahre gemacht, ohne Entlohnung, denn dafür hatten sie kein Geld. Ab und zu bekam ich eine Kinokarte. Da bin ich dann hin, obwohl ich 80 Prozent nicht verstand. Es war immerhin eine Abwechslung, die Bilder zu sehen. Es liefen dänische und englische Filme. Aber Englisch konnte ich auch nicht.

Allerdings waren die englischen Filme dänisch untertitelt. Das war eine gute Übung, und peu a peu habe ich das Dänische dann gelernt.

Die Familien, die uns Kinder aufnahmen, wurden von einer Frauen-Friedensorganisation besorgt. Diese Frauen haben uns auch weiterhin betreut, bei Problemen und ähnlichem. Die waren sehr nett.

Meine Familie war wirklich sehr gut zu mir. Aber nach eineinhalb Jahren mit fast 17 Jahren hatte ich die Nase gestrichen voll. Die anderen Kameraden waren alle einzeln bei Bauern untergekommen. Ich hatte sie alle mit dem Fahrrad von Kopenhagen aus besucht. Und als ich sah, wie die leben, da bekam ich ein großes Interesse für die Landwirtschaft. Damals gab es noch keine Traktoren, da wurde mit Pferden gearbeitet. Und Pferde waren meine Lieblingstiere. Als ich wieder bei meiner Familie war, habe ich gesagt, dass ich auf einen Bauernhof möchte. Dafür hatten die überhaupt kein Verständnis. Ich konnte damals schon passabel dänisch und habe auf sie eingeredet. Doch es war nichts zu machen. Da bin ich bockig geworden, habe mich total zurückgezogen, nicht mehr geredet und nicht mehr gearbeitet.

 Bis die sich schließlich an diese Frauenorganisation gewandt haben. Die haben mich dann zum Gespräch bestellt.

Im Stillen hatte ich gehofft, dass die Frauen mich verstehen würden. Im Gegenteil, da wurde ich nur ausgeschimpft:

Ich sei undankbar und wenn ich so weiter bocken würde, dann müssten sie mich in ein Jugendheim stecken. Das tat sehr weh. Beim Rausgehen sagte ich noch, dass ich mich wundere, in ein Land gekommen zu sein, wo man einen Menschen bestraft, der arbeiten will, der was Nützliches tun will. Das wollte ich doch, etwas Nützliches tun. Ich wollte etwas lernen. Beim Spülen und Bodenwischen lernt man doch nichts. Das hat doch keine Zukunft.

 

Ich sagte: »Wenn Sie mich aus diesem Grund in einem so schönen Land wie Dänemark in ein Erziehungsheim stecken wollen, dann muss ich feststellen, dass ich wieder in einem verkehrten Land gelandet bin. In Deutschland wurde ich auch nur rumkommandiert. Da gab’s auch keine Freiheit.«

So bin ich da weg gegangen und war sehr verbittert. Wenige Tage später kam dann ein Brief an meine Pflegeeltern: man habe sich die Sache überlegt und wolle mir die Möglichkeit geben, auf einem Bauernhof zu arbeiten. Das war ein Glückstag. Acht Tage später bekam ich die Anschrift des Bauernhofes und kam dort am 1. März 1941 an. Ich habe mich sehr herzlich von meinen Pflegeeltern verabschiedet, und wir sind bis zu ihrem Tod immer Freunde geblieben. Ihre Enkelkinder sind mittlerweile elternlos und wir hier sind auf deren Wunsch die Ersatzeltern geworden.

Natürlich wusste ich, als ich nach Dänemark kam, dass es damals um mein Leben ging. Doch bin ich anfangs davon ausgegangen, dass ich nur kurze Zeit in Dänemark bleiben würde. Ich sollte ja nach Israel. Nur unter diesen Bedingungen hat uns Dänemark überhaupt aufgenommen, nur als Transitland. Ich habe auch gehofft, meine Eltern kämen irgendwann ’raus. Meine Schwester (Edith) war ja christlich verheiratet. Und ich habe geglaubt, dass sie dadurch geschützt sei. Mehr habe ich damals ja nicht begriffen.

 

Hier in Dänemark wurde ich als Jude genau umgekehrt wie in Deutschland behandelt. Die Dänen wussten ja über die Judenverfolgung in Deutschland Bescheid. So war ich für das dänische Volk etwas Besonderes. Das war ein unbeschreibliches Gefühl, das man selbst erlebt haben muss. Das war wunderbar. Ich habe hier nicht eine einzige negative Bekanntschaft gemacht. Alle Menschen waren wunderbar, herzlich, warm.


Die Deutschen kommen

Am 9. April 1940 sind die Deutschen in Dänemark einmarschiert, nur Militär, noch keine SS. Zuerst hat sich dadurch kaum etwas für mich verändert – und doch etwas Entscheidendes: die Angst kam zurück und sie wurde täglich größer. Und noch eines war uns jetzt klar: der Weg nach Israel ist versperrt, jetzt sitzen wir wieder in der Falle. Was mir damals gut tat, war die Rede des dänischen Königs an sein Volk: wir sollten Ruhe bewahren, die politische Hoheit verbleibe bei den Dänen und er habe das letzte Wort.

 Nur die militärische Besatzung, die mussten wir nun dulden.

Dänemark blieb also in Teilen selbstständig bis zum Oktober 1943. Zuvor war der dänische Widerstand stetig angewachsen. Es gab Sabotage und ähnliches. Die Antwort der Wehrmacht waren Geiselerschießungen von zufällig ausgesuchten Zivilisten. Der Widerstand ging jedoch weiter. Also haben die Deutschen schließlich die dänische Regierung und den König auch politisch entmachtet.

Die gesamte dänische Polizei wurde verhaftet und die meisten ins KZ Neuengamme deportiert. Dadurch fielen den Deutschen die gesamten Akten der Polizei in die Hände. Hitler hatte mir ja die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen. Also war ich bei der dänischen Fremdenpolizei als Staatenloser registriert.

Das war unser großer Nachteil, als die Deutschen im Oktober mit den Judenrazzien anfingen. Vorher hatten sie schon verlangt, dass wir mit Judensternen herumlaufen sollten. Da hat der König widersprochen und gesagt: »Wenn Ihr das erzwingt, dann trage ich den ersten Stern.« Das hat er auch gemacht.

 

Dann kam die Nacht vom 5. auf den 6. Oktober. Ich wurde von meinem Bauernhof abgeholt und auf einen offenen Lastwagen verfrachtet, bewacht von Militär mit Maschinenpistolen. Ich durfte nur einen kleinen Koffer packen, aber sie befahlen mir ausdrücklich, alles an Geld, Schmuck, Uhren mitzunehmen. Das war ein Befehl. Aber Kleidung nur das Nötigste.

 

Wir sind dann nach Veilje auf die deutsche Feldgendarmerie gebracht worden und wurden dort festgehalten bis nachmittags um 3 Uhr. Plötzlich gingen die Sirenen los: Fliegeralarm. Das war zu der Zeit ganz ungewöhnlich, doch wir hatten eine kleine Hoffnung:

Wenn Veilje bombardiert wurde, vielleicht können wir dann fliehen? Doch es kamen keine Flugzeuge. Die SS hatte den Fliegeralarm ausgelöst, damit die Straßen leer waren. Und auf diesen menschenleeren Straßen hat man uns dann zum Bahnhof gebracht und in einen Zug mit lauter Viehwaggons gesperrt.


Deportiert nach Theresienstadt/Terezin

Wir wussten nicht genau, wohin es gehen sollte, doch wir ahnten: jetzt geht es ins KZ. Nach drei Nächten und vier Tagen kamen wir in Theresienstadt an. Das war der 9. Oktober 1943. Der Zug hielt mitten im Lager. Dort wurden wir von der SS und der jüdischen Lagerpolizei in Empfang genommen. Diese Kapos im Lager waren allerdings keine von der schlimmen Sorte. Die machten das nur, weil sie es mussten. Die hatten sich nicht danach gedrängt und auch keine Vorteile dadurch.

Im Lager sahen wir 60.000 größtenteils völlig ausgehungerte Menschen, die wie auf einem Ameisenhaufen durcheinander liefen. Es war wahnsinnig eng dort. Die Festung »Maria Theresia« war völlig überfüllt. Die hatten noch nicht einmal Platz für uns auf einer dieser Etagenpritschen.

Wir lagerten uns auf einem Steinboden und unser kleiner Koffer war unser Kopfkissen. Zum Essen erhielten wir dann drei Scheiben Weißbrot und eine Tasse Suppe. Die war völlig ungenießbar. Das war ein Sack Kümmel, der in einem großen Topf mit Wasser aufgekocht wurde.

Das war unsere Suppe, nur Kümmel und Wasser. Aber sie war warm. Es war ja schon Oktober, und wir hatten in den Viehwaggons gefroren. Also haben wir die Brühe runtergeschluckt.

Am nächsten Morgen war dann Appell. Wir wurden zum Straßenbau im Lager eingeteilt. Ich bin dann fast sechs Monate beim Straßenbau geblieben, nur mit Schaufel, Hacke und Schubkarre.

Der Appell hatte nur einen Zweck, herauszufinden, ob du noch arbeitsfähig bist. Solange du arbeiten konntest, hattest du nicht viel zu befürchten. Dazu haben sie einen nur angeguckt. Die hatten einen Blick dafür, ob einer überhaupt schon mal eine Schaufel in der Hand hatte. Es gab ja auch Ärzte, Rechtsanwälte u.s.w. unter uns. Die wurden zum Straßenbau eingeteilt.

Die SS hat sie dann beobachtet, wie sie mit zwei linken Händen versucht haben, mit der Schaufel zu arbeiten. Und dann gab es Prügel. »Du Saujude«, schrien die und schlugen mit ihren Reitpeitschen zu.

Wir waren immer zu zweit an einer Schubkarre. Der eine hat geladen, der andere gefahren. Mein allernächster Arbeitskamerad war ein Rechtsanwalt aus Odense, der hatte schon am ersten Tag so viele Blasen an der Hand, dass er nicht mehr wusste, wie er die Schaufel überhaupt halten sollte. Ich dagegen war das Arbeiten noch gewohnt, war noch stark genug und konnte auch mit dem Gerät umgehen. Sobald sich daher der SS-Aufseher umdrehte, habe ich die Arbeit meines Kameraden mitgemacht.

Der war so dankbar, so wahnsinnig dankbar.

Zweimal pro Woche bekamen wir unsere Brotration, 250 Gramm. Die haben wir in zehn Minuten in uns hineingestopft, so ausgehungert waren wir. Außerdem hatten wir ja keine Schränke, konnten das Brot also nicht aufheben. Und wer Hunger hat, der stiehlt. Im Lager wurde alles, was nicht niet- und nagelfest war, gestohlen. Es gab nur eines: einmal Essen, dann zwei Tage Hungern. Außerdem gab es fast täglich zwei Kartoffeln und eine dünne Soße, sowie einmal pro Woche ein kleines Stück Fleisch. Das war in heißem Wasser gekocht und hat nach nichts geschmeckt. Wir wussten nie, was das für Fleisch war. Aber wir aßen es. Was meinst du, was du essen kannst, wenn du Hunger hast. Alles, egal wie es schmeckt.

Von den alten Menschen im Lager haben nur wenige gearbeitet. Es gab nicht genügend Arbeit für 60.000 Menschen. Die Alten liefen auf der Straße hin und her wie die Löwen in einem Käfig, hin und her, hin und her, und wurden von Tag zu Tag weniger.

Und dann immer die Angst. Es war Winter und wir trugen Mützen. Wenn die SS vorbeikam, mussten wir stramm stehen und die Mütze abnehmen. Die Alten, die haben das manchmal vergessen oder sie haben zu spät reagiert und nicht gemerkt, dass das ein SS-Mann war, der da vorbeikam. Dann hat die SS kräftig mit der Peitsche zugeschlagen. Die trugen ja immer eine Reitpeitsche bei sich.

Wir Jüngeren haben zugesehen und das Blut hat in unseren Adern gekocht. Doch wir waren so hilflos. Was sollten wir machen? Und dennoch, nach dem Krieg habe ich mich oft gefragt: »Wir waren doch 60.000 und die SS, die waren vielleicht nur 100. Wenn wir sie nun angegriffen hätten?« Gut, die hatten Waffen. Doch die hätten nicht 60.000 umbringen können, so schnell wie wir 100 umgebracht hätten.

 

Heute wundert mich, dass da überhaupt keiner dran gedacht hat. Hätten wir damals allerdings gewusst, dass die Deutschen uns ermorden wollten, dann hätten wir bestimmt an Gegenwehr gedacht, wir dachten doch: solange wir arbeiten können, solange leben wir. Was in den anderen Lagern bereits passierte, ob das jemand wusste? Ich weiß es nicht.

Es gab dänische, deutsche, holländische, viele tschechische Juden in Theresienstadt; Polen nur insoweit, als sie in Deutschland oder Skandinavien gelebt hatten.


Irgendwie am Leben bleiben

Nach dem ersten halben Jahr erfuhr ich, dass es eine Arbeitsgruppe gab, die außerhalb des Lagers in einer landwirtschaftlichen Gärtnerei arbeitete. Da wurde Gemüse für das deutsche Militär angebaut. Die Gruppe nannte man »Gruppe Kleine Festung« und es hieß, sie bekäme doppelte Lebensmittelrationen. Natürlich gab es mehr zu essen, weil die Gruppe auch mehr arbeiten musste. Mir war das egal.

Ich habe mich gemeldet und bin ’rausgekommen. Dabei ließen die Kräfte langsam nach, denn das Essen reichte hinten und vorne nicht. Doch hatten wir die Möglichkeit, unbeobachtet ab und zu mal rohes Gemüse in den Mund zu stecken. Bei der Kohlernte sollten wir die äußeren Blätter abreißen, damit das Gemüse schöner aussah. Diese schmutzigen Blätter, die haben wir gefressen, ungewaschen und rein in den Mund. Das war verboten, aber Möglichkeiten ergaben sich immer.

In der Gärtnerei blieb ich zwei Monate. Bewacht waren wir da nur von SS. Das waren die schlimmsten Schläger, die man sich überhaupt vorstellen kann, die nicht eine Spur von Rücksicht zeigten. Die schlugen und traten uns den ganzen Tag, bei jeder noch so kleinen Gelegenheit. Morgens wurden wir nicht geweckt. Doch wir hatten im Gefühl, wann wir los mussten, auch ohne Uhren; die hatten sie uns ja abgenommen: Wir sind am Tor angetreten und bewacht ’raus marschiert. Das war im Sommer morgens um sechs Uhr. Zurück kamen wir immer erst nach Einbruch der Dunkelheit.

In der Zwischenzeit waren auch schon Transporte aus dem Lager weg gegangen. Die Pritschen, die dann frei wurden, da haben wir uns beeilt, uns die zu besorgen. Das war schon mal besser als auf dem Boden.

Die Häftlinge, die weg kamen, wurden noch viel, viel schlimmer abtransportiert, als wir aus Dänemark. Erst mussten sie ihre wenigen Habseligkeiten in Koffer packen. Die Koffer wurden dann in den Viehwaggons auf dem Boden gestapelt, mindestens drei Schichten waren es immer.

Darüber wurden pro Waggon bis zu 70 Menschen ’reingequetscht. Die wurden ’rein gedrückt wie Fische in ein Fass. Drinnen konnten sie nicht mehr aufrecht stehen, sondern nur gebückt. Und was irgendwie in einen Waggon passte, musste rein. Die Letzten wurden regelrecht ’rein gepeitscht. Was mit ihnen passieren würde, hat zwar niemand offen ausgesprochen, aber es war uns doch klar.

Die tschechischen Juden haben das ’rausbekommen. Die Festung Theresienstadt war ja rings von Erdwällen umgeben, und auf denen standen tschechische Polizisten.

 Keine Nazis, die machten das auf Befehl der Deutschen. Da haben die Tschechen schon mal untereinander gesprochen, Häftlinge mit Bewachern. Das hat uns manchmal Trost gegeben, denn die tschechische Polizei sagte, dass es mit den Deutschen rückwärts gehe an der Front.

Die sagten: »Die Deutschen, die siegen nicht mehr.«

Und von diesen Polizisten haben wir auch erfahren, dass es ein Lager namens Auschwitz gäbe. Dorthin, das erfuhren wir, gingen die Transporte. Und was in Auschwitz passierte, das haben sie nur angedeutet. Beweise hatten sie keine.

 

Nach etwa zwei Monaten draußen auf der Kleinen Festung war mal wieder Appell. Und da kam dieser Scheißkerl namens Alfred Utthard, ich weiß es nicht mehr genau. Wir nannten ihn nur Alfred. Er war der Allerschlimmste, ein Schwein, ein ganz großes Schwein.

Der rief nun nur die, die aus Dänemark kamen, und wir fürchteten schon das Schlimmste. Aber er fragte nur: »In euren Papieren steht, dass ihr Landarbeiter seid. Also müsst ihr auch mit der Sense umgehen können. Wer kann mit der Sense umgehen?«

Ich habe mich wieder gemeldet, denn ich dachte, wenn du dich freiwillig meldest, hast du einen Vorteil. Ich konnte mit der Sense arbeiten. Aber das Schlimmste war: ich konnte das Ding nicht scharf halten, ich konnte es einfach nicht schärfen. Und das musste man alle 10 Minuten.

Also wurden wir abkommandiert zu Hängen, an denen wir das hohe Gras schneiden sollten. Und wie ich schneide, kommt Alfred und kuckt, steht hinter mir und kuckt wie ich arbeite. Da wurde ich nervös. Wir wussten alle 33, wozu er in der Lage war. Die Sense war schon nicht mehr scharf und das Gras ging nicht mehr gut zu schneiden.

Also habe ich immer mehr Schwung genommen und haue die Sense plötzlich so in den Boden, dass mir der Schaft bricht. Da ging der auf mich los, frag besser nicht. Er hat mich mit der Peitsche fast zu Tode geprügelt, so dass ich abends kaum mehr zurück gehen konnte. Aber man kann viel aushalten, und ich war zum Glück erst 20 Jahre alt.

Schließlich wurde ich nicht mehr zur Landarbeit abgestellt. (SS-)Alfred fragte: »Wer kann mit Hammer und Säge umgehen?« Wieder habe ich mich freiwillig gemeldet. Alfred fragte: »Wieso kannst du mit der Säge arbeiten?« – »Mein Vater war Schreiner.« – »Gut, wir versuchen es.«


SS mal menschlich

Ich wurde also ganz alleine abgestellt, Kaninchenkäfige zu bauen. Es gab eine Zucht von Angorakaninchen, deren Haare für die Bomberjacken der Flieger benutzt wurden. Diese Zucht sollte ausgedehnt werden. Das Käfigbauen war ein ganz großer Vorteil für mich, ein einmaliger Vorteil in einem Lager wie Theresienstadt. Denn erstens konnte ich wirklich die Käfige bauen.

Und zweitens hatte ich nur einen SS-Mann als Aufseher, und das war ausnahmsweise mal ein anständiger Mensch, sogar sehr anständig. Er war schon etwas älter, so in den Sechzigern. Der hat immer weg geguckt, wenn die Kaninchen mit Kohlrabi, Karotten oder Getreide gefüttert wurden. Denn alles was ging, habe ich mir selbst in den Mund geschoben.

Karotten, Kohlrabi, sowas gab es ja im ganzen Lager nicht. Das waren ja Vitamine für mich, die mich wirklich am Leben gehalten haben.

Jeden Tag habe ich das gegessen, zusätzlich zu meiner Ration. Das war die beste Zeit im Lager, weil ich plötzlich keinen Hunger mehr hatte. Arbeiten musste ich viel, aber der Hunger war weg.

Der SS-Mann hat auch mit mir geredet, wenn ich ihn was gefragt habe. Meine Kameraden, die mit draußen arbeiten waren – wir waren zusammen etwa 20 Mann – die wurden jeden Abend von einem bewaffneten SS-Mann zurück ins Lager gebracht. Und wir hofften immer: bloß nicht der Alfred. Aber der hat es am öftesten gemacht. Am Lagereingang wurden wir gefilzt, ob wir was unter den Klamotten versteckt hatten. Natürlich haben wir, wenn möglich, Nahrungsmittel mit eingeschleust. Also haben meine Kameraden zu mir gesagt:

»Bubi, versuch herauszubekommen, wer uns heute Abend zurückbringt.«

Mein Aufseher hieß Gerson. Wenn Gerson uns zurück brachte, dann sagte der immer am Eingang: »Ich habe sie schon untersucht. Die sind in Ordnung.«

Wenn Gerson also zu mir sagte, dass er uns am Abend zurückbringen werde, dann haben die Kameraden alles in die Hosen gesteckt, was nur ’rein passte. Und das war ein echter Vorteil.


Jeden Tag tote Menschen

Das ging insgesamt vier Monate lang. Dann hieß es eines Morgens beim Appell: »Die ganze Gruppe wird ausgetauscht.« Nicht einer von den Alten kam mit raus. Und wieder wurde gefragt: »Ihr aus Dänemark, wer von euch kann mit Pferden umgehen?«, und Pferde waren meine Lieblingstiere, also meldete ich mich schon wieder freiwillig.

Ich bekam ein paar Pferde und einen Wagen und musste von morgens bis abends Baumaterial fahren. Aber leider nicht nur Material.

Die erste Fuhre jeden Morgen, das waren die Toten, die ich aufsammeln musste und ’raus zum Krematorium bringen. Jede Baracke, jede Stube hatte ja einen Stubenältesten. Dessen Aufgabe war es, dafür zu sorgen, dass jeden Morgen die Toten auf die Straße gelegt wurden. ’Raus!

Von daher habe ich auch ein paar Erinnerungen, die ich nie vergesse. Das waren landwirtschaftliche Pferdewagen, auf die wir die Leichen nackt drauf werfen mussten; der Stubenälteste an den Beinen und ich an den Händen und dann drauf. Ich komme also zum ersten Mal zum Krematorium, wo auch wieder Juden die Verbrennung der Leichen machen mussten, und frage: »Wie geht das hier mit dem Abladen? Wer hilft mir?« – »Das musst du alleine machen. Wir dürfen dir dabei nicht helfen!«

Und für mich ist das bis heute noch das Schlimmste! Ich kann keinen Toten anfassen. Ich bekomme mehr als Gänsehaut. Ich kann das einfach nicht. Aber ich musste.

Und da fing ich an, die Leichen über die Seiten zu ziehen. Wenn sie auch nicht mehr viel gewogen haben, die sind doch schwer zu bewegen. Auch wenn einer tot ist und abgemagert, ich hatte schon nicht mehr die Kraft, sie zu heben und ’raus zu schmeißen.

Die Kraft hatte ich schon nicht mehr.

Wie ich also an den Leichen ziehe und zerre, kommt da so ein SS-Mann, den ich nie vorher gesehen hatte: »Was machst du Saujude da? So macht man das nicht. Warst du nicht in der Landwirtschaft in Dänemark?« Das wusste der offensichtlich. Sage ich: »Ja!« – »Wie habt ihr Mist rausgefahren auf den Acker? Wie habt ihr das gemacht?« »Ja, da haben wir die Holzseiten hochgezogen.« – »Na bitte, dann zieh die Seiten hoch!« Dann habe ich die Holzwände hochgezogen, und die Toten, die oben lagen, fielen von alleine herunter, aber die unten bewegten sich nicht. Also fing ich wieder an, einen nach dem anderen runterzuziehen. »Du willst bei der Landwirtschaft gewesen sein? Jetzt werde ich’s dir mal zeigen.«

Dann stieg der SS-Mann auf den Wagen und begann mit seinen Stiefeln, die Leichen herunter zu treten.

Und als alle neben dem Wagen lagen, rief er: »So, jetzt hol die nächsten ab!«

Und dann musste ich die Pferde anziehen lassen, während die Leichen teilweise unter dem Wagen oder in den Speichen steckten, und denen wurden dann noch die Knochen gebrochen; einfach mit den Rädern drüber. »So machste das in Zukunft immer«, sagte der, »ab, nächste Fuhre!«

Das waren jeden Morgen zwischen 20 und 60 Leichen.

Die nächsten sechs Monate bin ich also mit dem Pferdewagen gefahren und habe natürlich wieder Pferdefutter gefressen, habe jeden Tag etwas von den Pferden gestohlen und gefressen.

Die Pferde bekamen Hafer und Kleie gemischt mit Rübensirup, flüssiger, dicker Sirup, so dick wie warmer Asphalt. Das war süß, und nach den ersten paarmal habe ich fürchterlichen Durchfall bekommen. Acht Tage habe ich geschissen, wie das Wasser aus dem Hahn läuft. Da hatte ich kolossale Schwierigkeiten, überhaupt meine Arbeit zu machen. Dauernd musste ich was loswerden.

Im Winter war jeden Tag die erste Fuhre nach den Leichen, Kohlen und Holz in Säcken zur Kommandantur zu bringen und ’rein zu tragen. Außerdem fuhr ich die Abfälle des Lagers und Baumaterial. Irgendwo wurde immer gebaut, als Beschäftigungsmaßnahme für die anderen Häftlinge. Ich fuhr Brot und Proviant zu den Küchen. Aber leider war immer eine Aufsicht dabei, da konnte ich nie mal was abziehen. In der Zeit war ich kräftemäßig etwa um die Hälfte reduziert. Das will heißen, ich war noch verhältnismäßig gut beieinander, weil ich ja die Möglichkeit hatte, Kaninchen- und Pferdefutter zu fressen.


Dänemark hilft in letzter Minute

Und – ganz wichtig – nach etwa einem halben Jahr im Lager schickte uns das Rote Kreuz aus Dänemark mehrmals fünf Kilo Lebensmittel, Konserven und Vitamintabletten. Und die haben natürlich sehr dazu beigetragen, dass wir noch Kraft hatten, wir, die Häftlinge aus Skandinavien, nur wir bekamen diese Päckchen. Da war natürlich jedes Mal ein Drittel gestohlen, aber den Rest bekamen wir.

Mich wunderte nur nach dem Krieg, dass ich keinen Typhus bekommen habe. Aber dafür haben mich die Wanzen gefressen. Das war eine Qual. Die ganzen Beine waren voller Entzündungen. Wir durften nicht bei Licht schlafen. Das wurde abends um 9 Uhr abgedreht. Und kaum war es dunkel, kamen die Wanzen. Die haben gebissen! Und wir konnten natürlich nicht die Fingernägel davon lassen. Das hat unglaublich gejuckt und gegen die Entzündungen hatten wir natürlich keine Medikamente.

Ich habe das heute noch, alle halbe Jahre fängt das an zu jucken, nicht mehr so wie damals, aber ich kratze dann und schon habe ich es wieder. Die letzten zwei der sechs Monate, die ich mit dem Pferdewagen fuhr, transportierte ich dann Erde, die für einen Bau ausgehoben wurde, und danach Baumaterialien. Es sollten Baderäume gebaut werden.

Aber wir, die wir das Material heran brachten, wir wussten schon, was da gebaut werden sollte, dass die nun mit uns dasselbe machen wollten wie in Auschwitz.

 

Was da passierte, erzählten uns ja die tschechischen Gendarmen. Da gab es überhaupt keinen Zweifel, dass wir da eine Gaskammer bauen sollten. Gottseidank sind wir damit nicht mehr fertig geworden.

Nach 18 Monaten im Lager erhielten wir Skandinavier ein Schreiben vom Lagerältesten, darin stand, ich lese es mal vor:

»Es wird Ihnen mitgeteilt, dass Sie in die voraussichtlich noch heute von Theresienstadt abgehende Reisegruppe eingeteilt werden. Sie werden daher ersucht, sich zuverlässig unter Mitnahme Ihres Gepäcks im Gebäude Bäckergasse 2 noch heute, Freitag, den 13.4.45 beginnend ab 20 Uhr bis längstens 22 Uhr einzufinden.«

Darüber steht meine Anschrift im Lager: eine Zahl, das war meine Gefangenennummer, Jahrgang 1923 und Seestraße 2, das war ein Haus, wo alle wohnten, die mit Pferden zu tun hatten.

Es hieß also, dass wir unsere Koffer packen sollten und uns in einem Kasernengebäude einfinden sollten. Wo es hingehen sollte, stand ja nicht drin. Da haben wir gedacht, jetzt sind wir an der Reihe. Dann waren wir in dieser Kaserne eingesperrt, gegenüber von den Eisenbahnschienen, dort wo immer die Transporte abgingen, und wir hatten Angst, waren unruhig und nervös, aber es passierte nichts.

Alles blieb ruhig die ganze Nacht über. Irgendwann haben wir uns dann auf den Boden gelegt und ein wenig geschlafen. Am Morgen war immer noch nichts, wir bekamen unsere tägliche Brotration, sogar eine bessere als sonst. Erst nachmittags gegen zwei Uhr rief einer von uns: »Guckt mal alle aus dem Fenster!«

Wir sahen ’raus, und da standen elf weiße Omnibusse mit rotem Kreuz. Da kam in uns eine ganz helle Hoffnung auf, dass wir nicht nach Auschwitz gehen würden. Das war – ja – ich weiß nicht, das kann ich gar nicht ausdrücken. Jedenfalls, zu 99 Prozent waren wir uns sicher: nach Auschwitz geht es nicht. Und so war es auch.


Befreiung

Wir waren etwa 450 Leute und wurden auf die elf Rot-Kreuz-Omnibusse verteilt. In jedem Bus saß ein SS-Mann mit Maschinenpistole, aber es waren zwei Chauffeure in jedem Bus und die waren Schweden.

Die sagten gleich zu uns auf Schwedisch: »Habt keine Angst! Jetzt seid ihr auf schwedischem Boden. Der hier ist nur zum Schein da und froh, dass ihr ihm nichts tut.«

Der hat das ja nicht verstanden, der Deutsche.

Dann ging es ab aus Theresienstadt, nachmittags gegen drei Uhr. Und da sehe ich Menschen, alle die Alten, die nicht arbeiteten, die liefen hinter unseren Bussen her. Wir fuhren ja ganz langsam ’raus. Die wussten natürlich, für uns scheint es in die Freiheit zu gehen, und sie selbst wussten ja noch nicht, wann der Krieg zu Ende sein würde. Davon war noch nichts zu bemerken.

Das war fürchterlich, diese Leute zu sehen, wie die uns nachgeschaut haben, obwohl wir selbst glücklich waren. Von Theresienstadt sollte unsere Reiseroute durch Berlin durchgehen, aber wir schafften es nicht mehr durchzukommen, bevor es dunkel wurde. Man wusste, dass Berlin jede Nacht bombardiert wurde, die Chauffeure erzählten uns das. So sind wir in einen Wald vor Berlin gefahren und haben dort die ganze Nacht gestanden.

Dann kamen die Bomben. Ich hätte nie geglaubt, was diese Bomben für eine Wirkung haben konnten. Wir waren vielleicht 10 bis 15 Kilometer von Berlin entfernt und unsere Busse sind bei jeder Bombe 10, 20 Zentimeter hochgehüpft. Das war unglaublich.

Wir dachten: »Mensch, Theresienstadt haben wir überlebt und müssen vielleicht hier unser Leben lassen!«

Mein Gott, wurde da bombardiert. Innerlich hat es uns gefreut, aber wir waren schon wieder ängstlich, wieder ängstlich. Am nächsten Morgen ging es dann nach Berlin ’rein und alle Straßen lagen voller Mauerschutt. Die Omnibusse konnten gar nicht vorwärts kommen. Immer wieder ging es im Rückwärtsgang aus einer verschütteten Straße ’raus und so dauerte es Stunden, bis wir durch Berlin durch waren.

 

Dann ging es ruckzuck über Flensburg nach Dänemark, das ja immer noch von den Deutschen besetzt war. Plötzlich standen die Dänen an der Straße mit der dänischen Fahne in der Hand und schrien ununterbrochen »Hurra!«.

Die warfen Lebensmittel und Schokolade zu uns rein. Das war, als wenn du neu geboren wirst. Auf Fünen in Odense haben wir in einer alten Schule übernachtet. Das waren die ersten Betten nach 18 Monaten. Wir schliefen wie die Murmeltiere und am Morgen gab es ein richtiges Frühstück, Haferflocken und so was. Die hatten ja Angst, dass wir das nicht vertragen. Wir hatten Hunger auf ganz was anderes.

Dann ging es weiter Richtung Fähre, Richtung Kopenhagen. Da hatte dann ein Bus einen Unfall. Drei andere kehrten um und nahmen die 40 Insassen auf. Auf der Fähre nach Seeland durften wir den Bus nicht verlassen, aber wir mussten dringend austreten und haben immer gerufen, dass wir ’raus müssen.

Schließlich hielten die Busse mitten auf der Landstraße und aus jedem Bus stieg der Deutsche mit seiner Maschinenpistole aus. Wir gingen in den Wald und verrichteten unser Geschäft. In Kopenhagen war am Hafen alles vom deutschen Militär abgeriegelt. Kein Däne durfte uns begrüßen.

Wir wurden auf ein Schiff verladen und ab nach Schweden. Da kamen wir erst mal in Quarantäne und wurden ärztlich untersucht, Blutproben und alles. Wir hofften derweil nur auf eine Portion Fleisch, auf Beefsteak, aber es gab nur gekochten Fisch.

 Doch wir konnten das auch verstehen, obwohl wir 18 Monate lang  nur von Beefsteak gesprochen hatten. Das war am 15. April.

 

Am 5. Mai hörten wir, dass sich die Deutschen in Dänemark ergeben hatten. Aber wir wurden noch nicht entlassen. Wir waren ganz wild drauf, nach Dänemark zurückzukommen, jetzt und sofort! Als wir dann endlich ’rauskamen, erhielten wir Taschengeld, damit wir die Reise nach Dänemark selbstständig machen konnten.


Das Glück und die Freiheit

In Kopenhagen hatte ich dann ein Erlebnis, das ich auch nie vergessen werde.

Auf dem Rathausplatz gab es Zeitungskioske, bei denen man auch telefonieren konnte. Gezahlt wurde bei den Zeitungsverkäufern. Von dort habe ich meine allerersten Pflegeeltern angerufen. Die wohnten ja bei Kopenhagen, und ich fragte, ob ich kommen könne. Die haben sich gefreut, dass ich überhaupt noch am Leben war, und natürlich sollte ich kommen.

»Nimm dir ein Taxi. Wir bezahlen, wenn du ankommst.«

Ich wollte also das Gespräch bezahlen, doch die Frau am Kiosk ließ mich warten. Die verkaufte weiter ihre Zeitungen, und immer, wenn ich sagte:

»Jetzt bin ich doch dran«, hieß es: »Noch einen Moment.«

Auf einmal gehen die Türen auf und Leute vom dänischen Widerstand in Uniform und mit Waffen kommen rein. »Wer sind Sie? Haben Sie Papiere?«

Ich habe ihnen erklärt, warum ich keine Papiere hatte.

»Können Sie das beweisen?«

Da habe ich ihnen meine Papiere aus Theresienstadt gezeigt. Die umarmten mich sogar: »Entschuldigen Sie, aber wir müssen hier wachsam sein. Viele Deutsche haben die Uniform ausgezogen und sind in Zivil noch in Dänemark. Und die Zeitungsfrau hier sagte uns, hier steht ein Mann, der spricht dänisch mit Akzent.«

18 Monate im Lager hatte ich nur deutsch gesprochen; mein Akzent war wieder ganz frisch. Dann fragten die mich, wo ich hinwolle.

Ich sagte: »Ich will eine Taxe nach da und da!«

Sagten die: »Kommt gar nicht in Frage. Wir fahren Sie hin.« Das war ein wirklich schönes Erlebnis.

 

Im Nachhinein ist mir klar, dass über uns, den dänischen Lagerinsassen, die ganze Zeit eine schützende Hand war, so dass wir nicht nach Auschwitz kamen. Ich weiß nicht, woher die kam, vom dänischen König vielleicht; aber das hat uns gerettet.

Einmal waren wir schon in einen Transport eingereiht. Doch dann hieß es plötzlich:

»Die Dänen, die dürfen nicht mit.«

Ein anderes Mal sollte eine Gruppe zum Barackenbau nach Celle verlegt werden. Damals wusste ich nicht, dass dort das KZ Bergen-Belsen war. Und weil es da wieder um Bauen mit Holz ging, hatte ich mich erneut freiwillig gemeldet. Celle liegt bei Hannover. Das war schon viel näher an Dänemark. Da hatte ich gehofft: vielleicht kannst du ausbrechen und fliehen. Man hatte mich schon eingeteilt.

Dann hieß es wieder: »Du gehörst zu dem dänischen Transport. Du kannst nicht mit.«

Dass ich mich im Übrigen immer wieder im Lager freiwillig gemeldet habe, hat auch einen Grund: Ich dachte, je mehr ich arbeite und je müder ich abends auf die Pritsche falle, umso weniger Zeit habe ich zum Nachdenken.

Mein Grundsatz war: je mehr du arbeitest, desto weniger grübelst du über dein Schicksal nach. Da hatte ich gar keine Zeit mehr, an die Situation zu denken, an die Gefahr, in der ich mich in Wirklichkeit befand. Ich glaube, das hat mir auch geholfen, die Zeit im Lager besser zu überstehen.

Ich hatte mich buchstäblich rausarbeiten wollen. Obwohl über dem Lager stand:

»Arbeit macht frei«.

Damit hat das nichts zu tun. Insgesamt aber war mein persönliches Glück, zu diesem dänischen Transport gehört zu haben.

Denn ich und die 20 Anderen von der Jugend-Aliyah (= hebräisch: »Aufstieg«-Hilfe zur Emigration von Kindern und Jugendlichen nach Palästina, gegründet 30.1.1933, KM) waren ja gar keine dänischen Staatsbürger. Doch wir kamen mit dem dänischen Transport und wurden deshalb auch mit befreit. Da haben wir den Dänen sehr viel zu verdanken.

Und jetzt Schluss damit.